Zeugnisse zum Völkermord an Sinti und Roma

Warum wurden Stimmen der Opfer nach 1945 überhört?
Zeugnisse zum Völkermord an den Sinti und Roma – Multimedialer Vortrag von Dr. Karola Fings

80 Jahre sind vergangen, seit die Deportationen der Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau begannen. Die ersten Häftlinge wurden am 26. Februar registriert, und ab dem März 1943 fuhren nahezu täglich auf der berüchtigten Rampe Züge ein. Am 23. März 2023 hielt die Historikerin Dr. Karola Fings auf Einladung des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge einen multimedialen Vortrag zum Thema „Zeugnisse zum Völkermord an den Sinti und Roma“; Veranstaltungsort war der Saal des Alten Amtsgerichts, Obertor 1.

Anlässlich des 80. Jahrestages der Deportationen nach Auschwitz rückte der Vortrag die Stimmen der Opfer und der Überlebenden in das Zentrum der Erinnerung. Anhand von Originaltönen aus Interviews und dem Auschwitz-Prozess sowie hörbar gemachten Quellen aus der Zeit der Verfolgung und unmittelbar nach der Befreiung veranschaulichte die Expertin die Dimensionen des Völkermordes. Fings leitet an der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg das internationale Projekt „Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa“.

Unter den Menschen, die in Birkenau in einen separaten Lagerabschnitt eingepfercht wurden, waren auch Sinti und Roma aus Hessen. Die Deportationen nach Auschwitz markieren die letzte Etappe auf dem Weg in den Völkermord. Auschwitz ist der zentrale Leidens- und Erinnerungsort der deutschen Sinti und Roma – nirgendwo sonst wurden so viele ermordet wie dort. Und doch ist bis heute in der Öffentlichkeit das Wissen um den Völkermord gering. Dabei haben sich Überlebende schon früh zu Wort gemeldet und auf beeindruckende Weise ihre Erfahrungen geschildert, wie beispielsweise Elisabeth Guttenberger 1961 in einer Rundfunksendung des WDR. Sie gehörte auch zu den wenigen Zeugen und Zeuginnen aus der Minderheit, die in dem Auschwitz-Prozess aussagten, der von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main stattfand.

Aber ihre Stimmen wurden nicht gehört, ihre Zeugnisse als unglaubwürdig abgetan. Niemand wollte nach 1945 etwas über die Verfolgung der Sinti und Roma wissen, obwohl weite Teile der Bevölkerung an der Ausgrenzung, Enteignung und Verschleppung beteiligt gewesen waren. Die Überlebenden wurden weiter diskriminiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Der schon vor 1933 herrschende Antiziganismus blieb salonfähig. Eine Anerkennung des Völkermordes blieb ebenso aus wie eine Entschädigung der Opfer und eine Bestrafung der Täter. Eine Empathie für diese Opfergruppe gab es über Jahrzehnte nicht.

Dr. Karola Fings ist auch Kuratorin von „Voices of the Victims“, das Quellen aus 20 Ländern zum Völkermord an den Sinti und Roma präsentiert und in RomArchive, dem digitalen Archiv der Sinti und Roma, online zur Verfügung steht. 2019 erschien ihre Überblicksdarstellung „Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit“ (C.H. Beck, München). 2021 gab sie mit der Leiterin des Fritz-Bauer-Instituts, Prof. Sybille Steinbacher, den Band „Sinti und Roma. Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive“ (Wallstein, Göttingen) heraus.
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Demonstration vor dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden, um gegen die fortgesetzte Sondererfassung der Minderheit zu protestieren, 1983. © Zentralrat Deutscher Sinti und Roma