Kritisch nach den Anfängen gefragt
Artikel des Bergsträßer Anzeiger vom 30. Januar 2017
Kritisch nach den Anfängen gefragt
Holocaust-Gedenktag(1): Ökomenische Veranstaltung erinnert an den Massenmord
Von unserem Mitarbeiter Thomas Tritsch
Zwingenberg. Wie konnte das passieren? 72 Jahre nach dem Holocaust ging Dr. Frank Meessen in Zwingenberg den Auslösern der NS-Diktatur auf den Grund. Der Theologe ist seit 1985 Leiter des Katholischen Bildungswerks Bergstraße-Odenwald. Er skizzierte die gesellschaftlichen, politischen und psychologischen Beschleuniger eines kollektiven und ideologisch instrumentalisierten Antisemitismus am Ende der Weimarer Republik.
Warum mündete der erste, improvisierte Demokratieversuch auf deutschem Boden 1933 in eine Katastrophe? Darüber sprach Meessen am Freitag im katholischen Pfarrzentrum. Eingeladen hatten die beiden Kirchen gemeinsam mit dem Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge. Anlass war der bundesweite Auschwitz-Gedenktag, der in Zwingenberg seit einigen Jahren als ökumenische Gedenkstunde organisiert wird. In diesem Jahr waren relativ wenige Gäste der Einladung gefolgt.
Eine Aufgabe aller Menschen
72 Jahre danach: Warnung vor der Gegenwart
Zwingenberg. Die aktuelle Situation im Land erfordere einen klaren Blick auf die Vergangenheit, so Dr. Harald Becker (Katholische Kirchengemeinde Zwingenberg): Allein im vergangenen Jahr wurden rund 200 Flüchtlingsunterkünfte angegriffen, rechtsextreme Gruppierungen erfahren eine breite Unterstützung. Ein Geschichtslehrer, der noch immer als Pädagoge arbeiten darf, fordert öffentlich eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad". Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke hatte mit seiner Dresdner Aussage über das Holocaust-Mahnmal in Berlin ("Denkmal der Schande im Herzen der Hauptstadt") für Empörung gesorgt.
Becker sagte, er spüre eine menschenverachtende Dynamik in einem Land, wo Politiker und Journalisten beleidigt und nach rechten Straftaten nur wenige Täter zur Verantwortung gezogen würden.
Bundesweiter Gedenktag
Der "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" am 27. Januar seit 1996 ein bundesweiter und gesetzlich verankerter Gedenktag.
Er bezieht sich auf den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Vereinten Nationen (UN) erklärten ihn 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. tr
"Gedenken führt eine Gesellschaft zusammen in der Reflexion einer gemeinsamen Geschichte", sagte Dr. Harald Becker von der Katholischen Kirchengemeinde. Becker ist auch im örtlichen Arbeitskreis Asyl aktiv. Er bezeichnete die Erinnerung an den Holocaust als Aufgabe aller Menschen, die in Deutschland leben. Mehr als eine Million Menschen wurden von 1940 bis 1945 in dem Vernichtungslager Auschwitz getötet. Ein zentraler Ort für den Völkermord an den europäischen Juden und Symbol für das effiziente Töten der NS-Maschinerie. Die Bilder aus den Tagen kurz nach der Befreiung gehören zum visuellen Gedächtnis der Menschheit.
Wie konnte das geschehen?
"Die deutsche Seele erscheint mir immer in einem Spannungsverhältnis zwischen aufgeklärtem Denken und einem Hang zu einem irrationalen Andererseits", sagte Frank Meessen (Jahrgang 1952). Der gebürtige Offenbacher hat Theologie, Philosophie und Germanistik studiert und bei Kardinal Lehmann promoviert.
In Zwingenberg frage er danach, wie ein aufgeklärtes Deutschland Anfang der 1930er Jahre in die nationalsozialistische Diktatur abgleiten konnte. Weimar, eine "Demokratie ohne Demokraten", sei durch Inflation, Weltwirtschaftskrise und zahllose Regierungswechsel, aber auch aufgrund der Kriegsschäden und Reparationsforderungen "anfällig für einen neuen Heilsbringer" gewesen. Meessen beleuchtete diesen Prozess nicht aus einer ganzheitlich historischen Perspektive, sondern durch einen "Blick durchs Mikroskop": der Literatur. Hier fand er klassische Entwicklungsmuster auf dem Weg in Verblendung und Fanatismus.
Aus Distanz wurde Interesse
Anhand des Briefromans "Adressat unbekannt" der US-amerikanischen Schriftstellerin Kressmann Taylor Der 1938 erschienene Text zeigt einen fiktiven Briefwechsel zwischen einem jüdischen, in San Francisco lebenden Kunsthändler und seinem nach Deutschland zurückgekehrten Freund und Geschäftspartner.
Der Deutsche zeigt sich zunehmend begeistert vom Nationalsozialismus, schließlich beginnt sich die enge Beziehung der beiden in offene Feindschaft zu verwandeln. Aus einer anfänglichen Distanz wird zunächst Interesse, dann Begeisterung und blinde Folgsamkeit. Weil er der in Deutschland verbleibenden Schwester des Amerikaners nicht hilft, worauf sie stirbt, rächt sich dieser durch belastende Korrespondenz, die den vermeintlichen Widerständler um seine NS-Karriere und danach sogar ins Zuchthaus bringen.
Die Masse als Problem
"Es ist die Faszination einer überindividuellen Bewegung", charakterisiert Frank Meessen die Verführung durch die Parteiideologie. Die Masse bietet Identifikation und Sicherheit in einer fragilen Welt, die keine einfachen Antworten zu bieten hat. Das "Wir" steht über dem "Ich". Dazu komme die Suche nach einem Sündenbock, dem die Schuld an den Wunden der kollektiven Seele gegeben wird. Am Ende werden sogar Gewalt und Verfolgung als notwendige Form der politischen Ziele gerechtfertigt. Meessen betont: "Es zeigen sich bestimmte Mechanismen, die auch heute mehr oder weniger erkennbar sind."
Entscheidender Unterschied
Gibt es tatsächlich Ähnlichkeiten mit der Weimarer Republik? Zukunftsängste, soziale Unterschiede, Terrorgefahr und die Furcht vor dem gesellschaftlichen Abstieg ließen den Wunsch nach einfachen Antworten und einem "starken Mann" an der Spitze des Staates lauter werden. "Nutznießer scheint aktuell die AfD zu sein", so der Theologe. Im Kollektiv suche der Einzelne nach Zugehörigkeit und Zusammenhalt in einer Welt, in der gesellschaftliche Solidarität auf der Strecke geblieben sei.
Ein vielleicht entscheidender Unterschied zu den 20er Jahren sei die Tatsache, dass die Deutschen mittlerweile eine über 70-jährige demokratische Erfahrung besitzen. Daher fordert Meessen: "Wir sollten der Situation mit politischer Entschiedenheit und im Geiste von Freiheit und Aufklärung begegnen." Als demokratische Gemeinschaft individueller Menschen, die selbstständig denken und Fragen stellen. Abschließend zitierte er die Autorin Carolin Emcke, die 2016 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde: "Demokratie muss man tun!"
© Bergsträßer Anzeiger, Montag, 30.01.2017
Zwingenberg. Die aktuelle Situation im Land erfordere einen klaren Blick auf die Vergangenheit, so Dr. Harald Becker (Katholische Kirchengemeinde Zwingenberg): Allein im vergangenen Jahr wurden rund 200 Flüchtlingsunterkünfte angegriffen, rechtsextreme Gruppierungen erfahren eine breite Unterstützung. Ein Geschichtslehrer, der noch immer als Pädagoge arbeiten darf, fordert öffentlich eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad". Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke hatte mit seiner Dresdner Aussage über das Holocaust-Mahnmal in Berlin ("Denkmal der Schande im Herzen der Hauptstadt") für Empörung gesorgt.
Becker sagte, er spüre eine menschenverachtende Dynamik in einem Land, wo Politiker und Journalisten beleidigt und nach rechten Straftaten nur wenige Täter zur Verantwortung gezogen würden.
Im Pfarrzentrum erinnerte er an das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück im Norden Brandenburgs, wo etwa 132 000 Frauen und Kinder und 1000 weibliche Jugendliche aus 40 Nationen und Volksgruppen interniert waren. Man geht davon aus, dass dort rund 28 000 Häftlinge gestorben sind. Kurz vor der Ankunft der sowjetischen Armee im Frühjahr 1945 entschied die SS, möglichst viele Gefangene zu töten, um Zeugen zu beseitigen. Bis zur Befreiung wurden Zehntausende ermordet. Becker verwies auf die grausamen medizinischen Experimente und Versuchsoperationen im Lager. Verantwortlicher Arzt in Ravensbrück war Karl Gebhardt, seine Assistenten waren Fritz Fischer und Ludwig Stumpfegger. Gebhardt wurde in den Nürnberger Prozessen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet. Stumpfegger nahm sich kurz vor der Kapitulation das Leben. Fischer wurde vorzeitig aus der Haft entlassen und begann nach dem Krieg eine zweite Karriere bei einem großen Pharmaunternehmen. tr
Bundesweiter Gedenktag
Der "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" am 27. Januar seit 1996 ein bundesweiter und gesetzlich verankerter Gedenktag.
Er bezieht sich auf den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Vereinten Nationen (UN) erklärten ihn 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. tr
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