Jahreshauptversammlung 2003

„Migration gestern und heute – Zusammenleben beginnt in der Nachbarschaft“
Brigitte Paddenberg, Ausländerbeauftragte des Kreises Bergstraße, referiert bei der öffentlichen Jahreshauptversammlung des Vereins „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge“

Der Verein „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge“ setzt sich dafür ein, dass das Gebäude der ehemaligen Synagoge wieder einer angemessenen neuen Nutzung zugeführt wird, die - mit Blick auf die Zukunft - die Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen, Weltanschauungen, Kulturen und Generationen fördert. Eine Möglichkeit für eine derartige langfristige Nutzung sieht der Vereinsvorstand in der Errichtung eines „Migrations-Museums“, das die historischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der Migration von Menschen darstellt.

Der Verein hat deshalb zur diesjährigen öffentlichen Hauptversammlung die Ausländerbeauftragte des Kreises Bergstraße, Brigitte Paddenberg, zu einem Referat über die vielfältigen Aspekte der Migration von Menschen eingeladen. Brigitte Paddenberg: „Viele Orte unserer Umgebung sind sowohl von Aus- als auch von Einwanderungsbewegungen geprägt. Menschen aus vielen Ländern haben hier Wurzeln geschlagen und sich eine neue zweite Heimat erarbeitet. Das Zusammenleben von Menschen mit eigener Vorgeschichte und Erfahrung, mitunter auch divergierenden Wertvorstellungen, stellt sowohl die Aufnahmegesellschaft als auch die Migranten vor andauernde, alle Lebensphasen begleitenden Herausforderungen: Im Alltagsleben müssen die Regeln und Bedingungen für das Miteinander ausgehandelt werden, Konflikte bearbeitet, Begegnungen und Austausch organisiert, aber auch Chancenungleichheiten abgebaut werden. Die mitgebrachte Vielfalt an kulturellen Traditionen, Sprachen, Umgangs- und Lebensformen erfordert von dem Einzelnen die Fähigkeit, sich neue Konzepte der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens und Handelns anzueignen. Die Handlungsspielräume kommunaler Integrationspolitik werden bei der Lösung der anstehenden Aufgaben einerseits von politischen und rechtlichen Vorgaben des Bundes, wenn nicht sogar der europäischen Ebene bestimmt, andererseits kann gerade hier auf zahlreiche vorhandene Ressourcen und Potenziale aufgebaut werden.“

Mitglieder, Freunde des Vereins und Interessierte sind zur Jahreshauptversammlung des Vereins „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge“ am Montag, 23. Juni, 20 Uhr im Evangelischen Gemeindehaus Alsbach, Bickenbacher Straße 27 recht herzlich eingeladen.

Artikel des Bergsträßer Anzeiger vom 26. Juni 2003

Für ein friedliches Miteinander aller Religionen
Harmonische Jahreshauptversammlung beim Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge

Ausgesprochen flott und einstimmig verlief der offizielle Teil der Jahreshauptversammlung beim Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge e.V. Vorsitzender Dr. Fritz Kilthau ließ in seinem Rückblick einige Veranstaltungen des vergangenen Jahres Revue passieren.
Er nannte die Führung auf dem jüdischen Friedhof in Alsbach, den Besuch von Prof. Joan Haahr, einer Enkelin der letzten Zwingenberger Juden Martha und Moritz Schack, das erfolgreiche Konzert "Church meets Synagogue" in Zusammenarbeit mit den beiden Kirchengemeinden, die Lesung mit Petra Kunik und eine Fahrt zum KZ Osthofen. Das Festessen anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft an Kurt Knapp habe darüber hinaus gezeigt, dass sich der Verein nicht nur mit ernsten Themen befasse, sondern auch feiern könne. Neuland habe der Arbeitskreis mit der Teilnahme am Weihnachtsmarkt betreten. Hier erhofft sich Kilthau jedoch noch ein bisschen mehr Neugier von Seiten der Besucher.
Wie beim Besuch der Mannheimer Moschee deutlich geworden, sei es den Vereinsmitgliedern ein tiefes Anliegen, nicht als "Judde-Verein" wahrgenommen zu werden, der sich nur für die Kultur und Geschichte der Juden interessiere, sondern der sich mit seiner Arbeit für ein friedliches Miteinander tatsächlich "aller friedlichen Kulturen und Religionen" einsetze.
Kilthau hofft sehr auf Unterstützung durch Institutionen, Stiftungen oder Privatpersonen, um auf lange Sicht das Gebäude der ehemaligen Synagoge vom derzeitigen Besitzer übernehmen zu können. Ein erster Kontakt zur Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen ist aufgenommen, um ein Museumskonzept zu erstellen.
Eine kleine Wanderausstellung zum Thema Migration in Zusammenarbeit mit Brigitte Paddenberg sei auch im Gespräch.
Schatzmeister Reinhold Dinges (muss heissen: Nicolas Durak, F. Kilthau) gab einen positiven Bericht über die Finanzen. Ihm wurde von Kassenprüfer Kurt Knapp eine "in hervorragendem Zustand geführte" Kasse bestätigt. Knapps Antrag auf Entlastung des Vorstands erfolgte ebenso einstimmig wie die anschließenden Wahlen.
Danach wurde Dr. Fritz Kilthau zum ersten Vorsitzenden und Hanns Werner zu seinem Stellvertreter gewählt, Ernst Stengl als Schriftführer und Reinhold Dinges als Schatzmeister bestätigt (muss heissen: Reinhold Dinges übernahm das Amt des Schatzmeisters von Nicolas Durak, F. Kilthau), Dr. Claudia Becker, Steffi Beckmann, Nicolas Durak, Heinz Frassine, Dr. Christoph Klock, Kurt Knapp, Ulrike Scherf, Hannelore Schramm, Harry Schramm und Renate Weber fungieren als Beisitzer. Wolfgang Becker und Sylvia Schneider wurden als Kassenprüfer bestimmt.
Mit einem Ausblick für das kommende Vereinsjahr meldete sich nochmals Kilthau zu Wort. So will sich der Arbeitskreis erstmals an den Ferienspielen beteiligen - mit einem palästinensischen Märchenerzähler und seinen "Geschichten aus dem Beduinenzelt".
Ein Vortrag anlässlich des 100. Jahrestages der Einweihung der Zwingenberger Synagoge im September, "Church meets Synagogue again" im Oktober und die erneute Teilnahme am Weihnachtsmarkt stehen ebenfalls auf dem Programm. dod

Artikel des Bergsträßer Anzeiger vom 27. Juni 2003

"Migrations-Museum": Ein Ort der Begegnung

Vortrag von Brigitte Paddenberg über das Thema "Migration" / Über 125 Nationalitäten leben im Kreis Bergstraße

Dass der "Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge e.V." sich bemüht, das Gebäude der ehemaligen Synagoge einer "angemessenen" neuen Nutzung zuzuführen, ist bekannt - eine Möglichkeit wäre ein "Migrations-Museum": ein Ort, der "die Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen, Weltanschauungen, Kulturen und Generationen fördert" und auch das Verständnis füreinander.
Bei der Jahreshauptversammlung (wir berichteten) stand deshalb der Vortrag von Brigitte Paddenberg, der Ausländerbeauftragten des Kreises, über Migration in ihren verschiedenen Aspekten im Mittelpunkt. Bereits bei der Einleitung durch Dr. Fritz Kilthau, den Vorsitzenden des Vereins, wurde klar, dass Migration - die Wanderung von Menschen im geographischen und sozialen Raum - keineswegs ein "modernes" Thema ist. Sie fing gewissermaßen bei Adams und Evas Auszug aus dem Paradies an, findet sich in der Nibelungensage und spiegelt sich in den so genannten "Ostströmen" ebenso wie in den Auswanderungswellen nach Übersee oder ins europäische Ausland.
Genauso gab es auch Migrationsbewegungen nach Deutschland. Armut in den Heimatländern oder die Flucht vor Glaubensverfolgung, beispielsweise bei den Hugenotten, und Pogromen spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Erweiterung des persönlichen Horizonts, um Neues zu erleben und zu lernen, wie beispielsweise bei den Wanderarbeitern.
"Wanderbewegung ist also erst mal was ganz Normales", griff Brigitte Paddenberg Kilthaus Einleitung auf. Wenn auch die Definition von "Ausländern" schwanken mochte. So wurden beispielsweise 1885 hier in unserem Raum auch Bayern und Sachsen dazu gezählt. Und: Migration wurde durchaus positiv betrachtet, "Einheimische lernten bald von diesen das Handwerk", findet man da geschrieben. Über die erste "Osteria" in Heppenheim, die sich 1905 findet, die 1925 belegte italienische Eisdiele, die sicherlich als echte Bereicherung betrachtet wurde, die Migration deutscher Frauen als Haushaltshilfen beispielsweise nach Holland in den 20-er und 30-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zur Anwerbung ausländischer Arbeiter in den Fünfzigern und schließlich die Asylsuchenden laufen diese Migrationswellen.
Paddenberg legte ihren Schwerpunkt auf die Besonderheiten, die Unterschiede, die sich zwischen einem eher ländlich geprägten Kreis wie hier bei uns und Ballungsgebieten ergeben. So erfolgte in den Achtzigern und Neunzigern - verzögert zu den Ballungsräumen - ein starker Zuzug, der zudem mit einem allgemeinen Wandel in den Gemeinden zusammenfiel: eine kleine Migrationsbewegung durch die Stadtflüchter in ländlichere Gebiete. Trotz eines gewissen Konfliktpotentials durch unterschiedliche Lebensweisen hob die Ausländerbeauftragte doch auch die große positive Herausforderung hervor, die sich aus einer gegenseitigen Befruchtung ergeben kann und ergeben habe.
Dass dabei nicht alle Migranten gleich und sich selbstredend auch nicht unbedingt gewogen sind, erhöht die Schwierigkeiten, die aufkommen können, vor allem in einer Konkurrenzsituation um Ausbildungsplätze und Arbeit. Es liegt auf der Hand, dass eine in Deutschland geborene Ärztin türkischer Staatsangehörigkeit nicht mehr viel gemeinsam hat mit der Analphabetin, die gerade erst aus ihrem Herkunftsland ihrem Ehemann in das "fremde" Deutschland nachzieht. Und dennoch funktioniert das Miteinander nach Brigitte Paddenberg gut.
Mit über 125 Nationalitäten lebe gewissermaßen "die ganze Welt" im Kreis Bergstraße, angefangen von der stärksten Gruppe, die Mitglieder der EU umfaßt, über die Saisonarbeiter, Spätaussiedler oder Familienangehörige bis hin zu den Asylsuchenden.
Gefordert seien hier vor allem "begleitende Hilfen" für Menschen, die neu nach Deutschland kommen - und "Interkulturelle Kompetenz": sich in andere hineinversetzen können, offen sein für andere Lebensformen, aber auch Wertmaßstäbe (neu) zu messen: Welche Werte sind verzichtbar, welche unverrückbar?
Obwohl der Kreis Bergstraße laut Paddenberg "auf dem richtigen Weg" sei, gebe es dennoch einiges zu verbessern. Dass der Ausländeranteil an Hauptschulen überproportional, an Gymnasien jedoch unterproportional sei, weise darauf hin, dass die Eltern der Schüler Unterstützung brauchten. Das beginnt für die Referentin bereits im Kindergarten, wo sie sich speziell in Sprachbildung und -förderung qualifizierte Erzieherinnen wünscht. Mit mehr gut (aus-)gebildeten jungen Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit sinke auch der derzeitige überproportionale Anteil an Ausländern (ohne Hauptschulabschluss, ohne Ausbildung) in der Arbeitslosenstatistik.
Brigitte Paddenberg ließ keinen Zweifel daran, dass Integration ein gesellschaftlicher Prozess ist, an dem sich alle beteiligen müssen. Gleichberechtigung und Chancengleichheit, Akzeptanz sowie Selbstwertgefühl und Identität sieht sie als gleichseitiges Dreieck an, an dem alle arbeiten müssen. Beide Seiten müssen offen sein für das "Andersartige", Toleranz und Hilfsangebote müssen nicht nur angeboten, sondern auch angenommen werden. Die Einbindung von Migranten ins private Umfeld schließlich führe zur Identifikation: "Ich bin Bensheimer!" - auch mit dem Pass eines anderen Staates. Dass dies ein Prozess über Generationen hinweg sein kann, und nicht in kurzer Zeit zu ereichen, ist klar. Aber die Ausländerbeauftragte machte auch deutlich: Nur über eine gemeinsame Identität ist Extremismus entgegen zu wirken und der Stachel zu ziehen.
Wenn wir eine Freundin haben, die sich fürchtet, nachts allein auf die Straße zu gehen, holen wir sie ja auch ab. Warum nicht auch eine Mutter zum Kindergartenelternabend, wenn sie aus einer Gesellschaft kommt, in der Frauen abends nicht allein auf die Straße gehen (dürfen)? Ein bisschen Einfühlungsvermögen ist schon gefragt - auch wenn es "mühsamer" ist, als die Feststellung: "Die wollen ja doch nicht!" dod

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