Aspekte der Erinnerung an die NS-Zeit

Anläßlich des 75. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz befragte Marvin Zubrod, Mitglied der BAnane-Jugendredaktion des Bergsträßer Anzeiger, unseren Vorsitzenden Dr. Fritz Kilthau zu Aspekten der Erinnerung an die NS-Zeit. Das Interview erschien gekürzt im BA vom 27. Januar 2020 – nachstehend der ungekürzte Text:

- Es wird in wenigen Jahren vermutlich kaum noch Zeitzeugen geben, die ihr Wissen und ihre Erlebnisse an nachfolgende Generationen weitergeben können. Müsste sich denn dazu in der heutigen Gesellschaft oder Politik etwas ändern, um die Erinnerungskultur erhalten zu können oder brauchen wir gar eine neue Erinnerungskultur?

Sie haben völlig recht: Leider wird die Zahl der Zeitzeugen, die authentisch über ihre Erfahrungen mit der NS-Zeit berichten können, immer weniger.
Wie gut, dass in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten weitere Formen der Erinnerungskultur entwickelt wurden. Wichtig erscheint mir, das junge Menschen viel stärker mit einbezogen werden – sie können sicherlich mit ihrem Blick neue Sichtweisen einbringen, die aktuellen Erinnerungskulturen fortführen, ausbauen und modifizieren, wobei die neuen Medien eine bedeutende Rolle spielen können.

Ich bin sehr froh, dass es aktuell bereits viele Aktivitäten gibt, mit denen an die NS-Zeit erinnert wird – einige möchte ich nachfolgend anführen:

Viele Details zur Geschichte und Lokalgeschichte des Nationalsozialismus wurden bisher erforscht und publiziert. Diese Arbeiten sind noch längst nicht abgeschlossen – hierbei könnte ich mir gut eine verstärkte Mitarbeit von Schülerinnen und Schüler vorstellen, wie es beispielsweise in der Geschichtswerkstatt der Geschwister-Scholl-Schule der Fall ist. Bei Schulprojekttagen könnte man sich mit der lokalen NS-Geschichte befassen – Vorschläge für solche kleinen Projekte finden sich auf unserer Webseite unter http://www.arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de/unser-angebot/schule---projekttage/index.html.

Gedenkstätten können wichtige Orte sein, um Teile der NS-Geschichte authentisch zu vermitteln. Deshalb finde ich es wichtig, dass Schulen Besuche solcher Gedenkstätten organisieren – gerade für junge Menschen erscheint mir beispielsweise ein Gang zu der Gedenkstele am Bensheimer Wasserwerk bedeutend, wo kurz vor Kriegsende drei junge Soldaten hingerichtet wurden. Bei einem Gedenkgang für die zwölf Opfer der Kirchberg-Morde haben vor einigen Jahren Schülerinnen und Schüler der Bensheimer Gymnasien die Lebensgeschichten der Opfer vorgestellt. Ich könnte mir vorstellen, dass solche Gedenkgänge auch von Schülerinnen und Schüler mit Unterstützung ihrer Lehrerinnen und Lehrer am Jahrestag dieser Morde ausgerichtet werden.

Immer mehr„Stolpersteine“ für die verfolgten und ermordeten Juden, aber auch für andere Opfer der NS-Zeit, werden verlegt, auch in etlichen Städten bei uns im Kreis Bergstraße, und dies geschieht oftmals unter Mitwirkung von Schülerinnen und Schülern. Im Vorfeld gilt es, die Lebenswege der Opfer zu recherchieren, eventuell mit Nachfahren Kontakt aufzunehmen. Diesen Lebensgeschichten nachzuspüren, schafft eine sehr starke Nähe zu den Geschehnissen der NS-Zeit.

Mit Stadtgängen – wie zum Beispiel von unserem Verein regelmäßig angeboten – lassen sich die lokalen Spuren der NS-Zeit verfolgen – auf diesen Stadtgang in Zwingenberg kann man sich auch alleine mit Hilfe eines Smartphones begeben (Details unter http://www.arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de).

Die hiesigen Synagogenvereine bieten Vorträge und Filmvorführungen zu vielen Themen der NS-Zeit an. So hat unser Verein „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge“ im vorigen Jahr zu einem Gespräch mit vier Zeitzeugen eingeladen, die über ihre Erfahrungen als Kinder und Jugendliche in Hitler-Deutschland sprachen – das hat auch viele Jugendliche unter den Zuschauern interessiert. Vorstellbar wären solche Gespräche zwischen Zeitzeugen und Jugendlichen. Der Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge zeigt immer wieder Original-NS-Propagandafilme, um zu vermitteln, wie subtil die Nationalsozialisten ihre Botschaften mit solchen Filmen unters Volk brachten, auch diese Vorführungen mit Diskussionen finden erfreulicherweise bei jugendlichen Menschen Anklang.

Vor einiger Zeit führten Schülerinnen und Schüler des Schuldorfs Bergstraße mit großem Engagement das von uns verfasste Theaterstück „Mitten unter uns – Juden in Zwingenberg/Bergstraße“ auf. Ich denke, dies war für die Theatergruppe auch eine sehr interessante Form, sich mit der lokalen Geschichte zu befassen.

Ein Aspekt halte ich noch für sehr wichtig: Bei Jugendlichen, deren Eltern aus anderen Kulturen nach Deutschland eingewandert sind und wenig Bezug zur Nazi-Geschichte haben, sollte die Wissensvermittlung in den Schulen eine besondere Rolle spielen. Es kann sicher auch sehr bereichernd sein, die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler, die selbst Verfolgung und Krieg erlebt haben, in Aktivitäten der Erinnerungskultur zur Nazi-Vergangenheit einzubeziehen.

- Warum sollten sich Jugendliche heute noch mit der Geschichte der NS-Zeit befassen?
Die Nationalsozialisten begannen 1933 mit der Ausgrenzung und Verfolgung politisch Andersdenkender, aber auch von Juden und anderen Volksgruppen. Viele Verordnungen und Gesetze gegen Angehörige dieser Gruppen wurden erlassen, um diesen Aktionen einen pseudo-legalen Anstrich zu geben. Im Laufe der Jahre wurden immer mehr Personen festgenommen, verhört, in Gefängnisse und Konzentrationslager gesperrt. Die NS-Zeit gipfelte in der Ermordung von sechs Millionen Juden und 500.000 Sinti und Roma. 1939 lösten die Nationalsozialisten einen Weltkrieg aus, in dem 50 bis 60 Millionen Menschen starben. Diese Epoche war kein „Vogelschiss“, wie von dem Fraktionsvorsitzenden der AfD im Deutschen Bundestag, Alexander Gauland, behauptet, sondern der größte Zivilisationsbruch in der Geschichte Deutschlands.

Vor diesem Hintergrund betonten die Verfasser unseres Grundgesetzes 1949: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. (...) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (...) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Leider sind Hass gegen Andersdenkende, Antisemitismus und Antiislamismus, Ausgrenzung, Bedrohung und Verfolgung von Ausländern, Homosexuellen und anderen Gruppen durch rechte Personen oder Organisationen weiter lebendig, sogar viel gefährlicher als noch vor einiger Zeit. Selbst vor Mord – wie im Falle des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke – schrecken diese Rechtsextremen nicht zurück. Die Zeit des Nationalsozialismus sollte uns alle ermahnen und uns veranlassen, diesen Tendenzen hörbar entgegenzutreten. Ich finde es daher besonders gut, wenn sich Schülerinnen und Schüler für eine „Schule gegen Rassismus – Schule mit Courage“ einsetzen und sich gegen jede Form von Diskriminierung, Mobbing und Gewalt aussprechen.
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