Dr. Fritz Kilthau bei der Verlegung

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte Ihnen einige Informationen zu der Synagoge hier in der Wiesenstraße geben. Diese Synagoge wurde 1903 erbaut, nachdem in der ersten Zwingenberger Synagoge in der Altstadt am Großen Berg 2 im Oktober 1902 ein Brand ausgebrochen war. Hinzu kam, dass es dort relativ eng war, was den Wunsch nach einer neuen, größeren Synagoge beflügelte. Es gab damals etwa 56 jüdische Bürger in Zwingenberg. Am 6. April 1903 erfolgte der erste Spatenstich und bereits am 11. September – nach lediglich 107 Arbeitstagen, also etwa einem halben Jahr, was man fast nicht glauben kann – wurde die Synagoge feierlich eingeweiht. Finanziert wurde sie durch Verkauf der alten Synagoge, durch Spenden, aber auch durch einen Zuschuss der politischen Gemeinde.

Die Männer betraten das Gebäude durch den Haupteingang hier vorn. Im Gebäude befand sich der Gebetsraum für die Männer auf der östlichen Seite, der sich bis zum Dach erstreckte – über einer Synagoge darf ja kein weiterer Raum sein. Für die Frauen war auf der Rückseite des Gebäudes, vom Pfarrhausgäßchen aus, ein weiterer Eingang, der über eine Treppe zur Frauenempore führte. Westlich des Sakralraums war im Erdgeschoss eine 2-Zimmerwohnung für die sogenannte Schawwesgoi – Schawwes steht umgangssprachlich für Sabbat und als Goi bezeichnen die Juden einen Nichtjuden, hier bei uns eine nichtjüdische Frau. Sie verrichtete all die Arbeiten, die den Juden am Sabbat aus religiösen Gründen verboten waren, die mit Feuer etwas zu tun hatten wie z.B. Kochen, Wäsche waschen oder Heizen. Zusätzlich im Erdgeschoss war die Schulstube. Im 1. Stock war die 3-Zimmer-Wohnung des Religionslehrers, der gleichzeitig Vorsänger, Vorbeter und Schächter war. Ein Frauenbad, eine Mikwe, konnte nicht nachgewiesen werden.

Es gab etliche Schmuckelemente am Gebäude, die auf eine Nutzung als Synagoge hinwiesen. Auffällig waren die orientalisch anmutenden, hufeisenförmigen Fensterumrahmungen im Obergeschoss, wie man hier auf dem Foto sehen kann. Über dem Haupteingang waren auf steinernen Gesetzestafeln die zehn Gebote zu sehen. In goldenen Buchstaben war der hebräische Spruch „Wisse, vor wem Du stehst“ angebracht. Diese Schmuckelemente wurden nach der Reichspogromnacht 1938 zerstört oder nach dem Krieg entfernt.

Reichspogromnacht 10. November 1938: Wie überall in Deutschland versuchten auch die Nationalsozialisten in Zwingenberg die Synagoge zu zerstören. Die Nachbarn bedrängten die angerückten SA-Leute in Sorge um ihre Häuser, kein Feuer zu legen. Dass das Gebäude letztlich erhalten werden konnte, ist auch darauf zurückzuführen, dass der tote Sohn der Schawesgoj in ihrer Wohnung aufgebahrt war und daraufhin die Nationalsozialisten unverrichteter Dinge abzogen. Das Bergsträßer Anzeigeblatt meldete, dass das Haus am 10. November an Privat verkauft worden sei. Der Besitzerwechsel erfolgt allerdings erst am 21. Dezember 1939, nachdem der Verkauf erst im Juni 1939 vom Reichsstatthalter in Hessen genehmigt worden war und der Kaufpreis auf ein Sperrkonto eingezahlt wurde, zu dem Juden bzw. ihre jüdischen Organisationen natürlich keinen Zugang hatten.

Nach dem Krieg wurde das Gebäude zunächst von der amerikanischen Militärregierung „beaufsichtigt“, wie es offiziell hieß. 1948 wurde die JRSO – Jewish Restitution Successor Organisation - eingerichtet. Diese Organisation kümmerte sich unter anderem um Vermögen, für das es keine direkten Berechtigten mehr gab, wie die Zwingenberger Synagoge – die jüdische Gemeinde Zwingenberg existierte ja nicht mehr. 1950 beantragte die JRSO die Herausgabe der ehemaligen Synagoge von den Käufern. Die Eigentumsrechte an der Zwingenberger Synagoge wurden an die JRSO übertragen, den bisherigen Besitzern aber ein Vorkaufsrecht eingeräumt. Im Juni 1953 erwarben die bisherigen Bewohner schließlich wieder das Gebäude. Über den Kaufpreis ist nichts bekannt; allerdings erhielten die Besitzer nach den Vorschriften des Bundesrückerstattungsgesetzes für den Kauf 1938/39 einen Rückerstattungsbetrag von 675 DM.

Wie schon erwähnt wurde 1964 an der im Original erhaltenen Fassade leider erhebliche Veränderungen vorgenommen, so wurden beispielsweise die originalen Fensterumrahmen entfernt – heute erinnern im Wesentlichen nur noch der Davidstern in der östlichen Giebelwand und die geschmiedete Menora – der siebenarmige Leuchter – im Tor der Einfriedung an die frühere Nutzung des Gebäudes als Synagoge.

Ich freue mich deshalb sehr, dass mit der heutigen Verlegung der Stolperschwelle auf diese Nutzung hingewiesen wird. Gleichzeitig möchten wir damit auch an die 40 ehemaligen jüdischen Zwingenberger Bürger erinnern, die während der NS-Zeit emigrieren mussten, verfolgt und ermordet wurden. Die Initiative für die Verlegung der Stolperschwelle kam von unserem Vereinsmitglied York Bernau; um die Details der Verlegung und Absprache mit Gunter Demnig und seinen Mitarbeiterinnen hatte sich unser Vorstandsmitglied Ulrich Kühnhold gekümmert. Die Jubiläumsstiftung der Sparkasse Bensheim hat die Verlegung der Stolperschwelle finanziell unterstützt – hierfür danken wir sehr herzlich. Herzlichen Dank auch an Bürgermeister Dr. Holger Habich, der den Arbeitskreis für diesen Zuschuss der Sparkassenstiftung vorgeschlagen hatte.

Was ich Ihnen über die Synagoge erzählt habe und vieles mehr, können Sie in unserer Broschüre über die Synagogen von Zwingenberg nachlesen – ich möchte gerne jedem von Ihnen gleich ein Exemplar dieser Publikation mitgeben. Falls Sie weitere Details auch in Form von Dokumenten und Bildern sehen wollen, lade ich Sie zu unserem Bildvortrag über die beiden ehemaligen Synagogen am morgigen Dienstag, den 15. November, ein; er findet ab 19 Uhr im Saal des Alten Amtsgerichts statt.
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