"Das Lager der vergessenen Kinder"
Das Lager der vergessenen Kinder in Lindenfels
Filmvorführung und Diskussion mit der Filmautorin Yvonne Menne
Sie hießen Hadassa, Dani, Ruffka oder Arie, sie waren 1945 zwischen sechs und fünfzehn Jahre alt – jüdische Kinder aus Polen und Russland, die ihre Eltern durch den Nazi-Terror verloren hatten und nach Kriegsende alleine und obdachlos verzweifelt nach ihren Angehörigen, nach einer neuen Zukunft suchten. In einem Kinderlager in Lindenfels, das die UNRRA, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, in einigen beschlagnahmten Hotels eingerichtet hatte, fanden viele dieser Kinder von 1946 bis 1948 vorübergehend Geborgenheit und ein Zuhause – ein kurzes und weitgehend vergessenes Stück Geschichte, das die Frankfurter Autorin Yvonne Menne in einem bewegenden Fernsehfilm nacherzählt hat.
Jüdische Lehrer und Erzieher, die meistens ebenfalls Überlebende des Holocaust waren, kümmerten sich um die verängstigten und verstörten Jungen und Mädchen. Doch der Aufenthalt in Lindenfels verlief nicht ohne Spannungen zur deutschen Bevölkerung – bis heute fällt es den meisten der alten Generation schwer, über die jüdischen Kinder zu sprechen. Eine Ausnahme ist der hoch betagte Hermann Schacker, der den Kindern im Lindenfelser Lager Klavierunterricht erteilte, und der im Film zu Wort kommt.
Yvonne Menne hat einige der jüdischen Kinder von damals wieder gefunden. Ihre Spurensuche beginnt in Lindenfels und führt bis nach Israel. In ihrer eindringlichen Dokumentation erinnern sich die Befragten an die Zeit, als sie Kinder waren und nach dem überstandenen Grauen mühsam wieder das Lachen erlernten. Sie erzählen von ihrem Leben in Lindenfels und dem mühsamen Weg mit dem berühmten Flüchtlingsschiff „Exodus“ in Richtung Palästina. Bekannterweise kaperten die Briten das Schiff vor Palästina und brachten die Flüchtlinge, darunter die Kinder aus Lindenfels, nach Deutschland zurück – in der Nähe von Lübeck wurden sie eingesperrt und bewacht von Deutschen, was grausame Erinnerungen weckte. Über ein Jahr später erreichten die „verlassenen Kinder“ ihre neue Heimat Palästina, was erst ganz allmählich zu ihrem Zuhause wurde. Auch heute noch erinnern sie sich öfters unwillkürlich an die schrecklichen Geschehnisse in Nazi-Deutschland, aber auch an die Fürsorge im Lager in Lindenfels im Odenwald.
i „Das Lager der verlassenen Kinder“
Filmvorführung und Diskussion mit der Filmautorin Yvonne Menne
Mittwoch, 15. November 2006, 20:00 Uhr - Evangelisches Gemeindehaus
Veranstalter: Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge, evangelische Kirchengemeinde Zwingenberg und Alsbach sowie katholische Pfarrgemeinde Zwingenberg
Artikel des Bergsträßer Anzeiger vom 20. November 2006
Viel zu viel Grauen für ein einziges Menschenleben
FILMVORFÜHRUNG: Yvonne Mennes "Das Lager der verlassenen Kinder" erzählt vom Schicksal jüdischer Kinder nach dem Holocaust
Zwingenberg. Ein Film, der dem Grauen, das die Nationalsozialisten im Dritten Reich an den Juden verübten, ein Gesicht gibt: In "Das Lager der verlassenen Kinder - Lindenfels, die Überlebenden und der Exodus" rollt die Autorin Yvonne Menne die Geschichte jüdischer Kinder auf, die dem Holocaust entkamen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie auf Initiative der UN-Organisation UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) in Hotels in Lindenfels untergebracht und betreut. Die "Perle des Odenwalds" war von Bombardements weitgehend verschont geblieben.
"Die Juden wussten, dass sie nicht willkommen waren, und die Lindenfelser wussten, dass sie keine Wahl hatten." So stellt Yvonne Menne die Beziehung zwischen den jüdischen Kindern und ihren Betreuern und den Bürgern dar. Mit Fingerspitzengefühl geht Yvonne Menne an die Geschichte heran, die den Nazi-Terror ungeschminkt vor Augen führt. Aktuelle Interviews machen deutlich, dass die Zeit solche Wunden nicht heilen kann.
Hilfe von Lufthansapilot
Erfreulich, dass recht viele Besucher der Einladung des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge und der evangelischen Kirchengemeinden Zwingenberg und Alsbach gefolgt waren. Sie sahen sich nicht nur die Filmvorführung an, sondern nutzten auch die Gelegenheit, die anwesende Autorin nach den Hintergründen zu befragen.
Der Film aus dem Jahr 2000 ist ein Zusammenschnitt verschiedener Dokumente. Zum einen basiert er auf reichhaltigem Fotomaterial, das ein Lufthansapilot der Autorin zur Verfügung stellte. Zum anderen reiste Yvonne Menne nach Israel und suchte dort Juden auf, die in Lindenfels gelebt hatten. Außerdem befragte sie Lindenfelser Bürger. Ein weiteres Element sind Szenen aus einem 1947 gedrehten Film, bei dem 40 der jüdischen Kinder als Statisten mitwirkten.
Eines dieser 450 Kinder, das in Lindenfels zwischen 1946 und 1948 lebte, war Hadessa. Die Autorin suchte sie in Israel auf. Die alte Dame konnte sich nur unter Tränen an die Ereignisse in ihrer Jugend erinnern. Als in der Zeit des Nazi-Regimes die uniformierten Deutschen auftauchten, habe ihr Vater nur noch gerufen: "Lauf weg". Sie tat es und hörte Schüsse. Obwohl sie nur neun Jahre alt war, wusste sie sofort, was passiert war. Sie floh in den Wald und lebte dort mehrere Tage, bis ein Holzfäller sie fand. Bis Kriegsende hielt sie sich auf einem Bauernhof auf, wo sie hart arbeiten musste und oft geschlagen wurde. Danach kam sie zur UNRRA.
Dani, Sohn eines litauischen Schriftstellers, wurde mit zwölf Jahren deportiert. Er gehörte einer Gruppe von 132 Kindern an, die die Nazis von Dachau nach Auschwitz brachten. 50 Kilometer vor Auschwitz schaffte er es, aus dem Waggon zu springen. Er kam bei einer Bauernfamilie als Stalljunge unter. Nach dem Krieg irrte er zunächst ziellos umher, ohne Essen und ohne ein Dach über dem Kopf. Die UNRRA quartierte auch ihn in Lindenfels ein.
Jüdische Lehrer und Erzieher, die meisten Überlebende des Holocaust, kümmerten sich um die verängstigten und verstörten Kinder. Sie berichten in dem Film, dass die Mädchen und Jungen ein straffes Tagesprogramm hatten, so dass tagsüber kaum Gedanken an die jüngste Vergangenheit aufkommen konnten. Nachts brach das Erlebte immer wieder in Form von Alpträumen durch.
Mit Lindenfels hatte die Odyssee noch kein Ende. Das eigentliche Ziel war Palästina. Allerdings fehlten die nötigen Ausweispapiere. Dennoch wurden die jungen Leute mit rund 4000 weiteren Juden auf das Schiff "Exodus" gebracht, dessen offizielles Fahrziel Guatemala sein sollte. Zu jener Zeit stand Palästina noch unter britischer Hoheit. Die britische Marine beobachtete die Aktion mit Argusaugen.
Anstatt die "Exodus" in den Hafen von Haifa einfahren zu lassen, eröffnete sie das Feuer. "Wir kämpften gegen die Engländer mit Kartoffeln und Konservendosen", erinnerte sich einer der Betroffenen. Doch gegen die Waffen waren sie machtlos. Sie wurden zurückgeschifft, wie "auf einem Viehtransporter und mit wenig Essen". Das, was im Hafen von Haifa unter dem Begriff "Operation Oasis" lief, war aus Sicht der Juden ein Transport in "schwimmenden Käfigen".
Gewaltfrei von Bord getragen
In Hamburg ließen sie sich als Ausdruck des Protests gewaltfrei von Bord tragen. Sie wurden in Deutschland wieder in ein Lager interniert - ein ehemaliges KZ-Lager mit Stacheldraht, wieder bewacht von Deutschen. Erst als der Staat Israel gegründet wurde, kamen die Jugendlichen in ihr "gelobtes Land". Und zunächst dort in einen Kibbuz. Einige von ihnen leben heute in Tel Aviv. Doch die Jugenderinnerungen sind geblieben und haben sich fest ins Gedächtnis eingegraben.
Die damaligen Kinder stehen nach wie vor miteinander in Verbindung. Jedes Jahr treffen sie sich in dem Kibbuz. Wie tief und unauslöschbar das Erlebte sitzt, macht die Einschätzung eines Betroffenen deutlich: "Es ist viel zu viel für ein Menschenleben".
Yvonne Menne hat die Geschichte akribisch recherchiert. Dabei stieß sie nicht überall auf Wohlwollen. So hätten sich einige Lindenfelser schwer damit getan, aus diesem Abschnitt der Geschichte Lehren zu ziehen. In den Interviews war etwa zu hören, dass man eigentlich nichts mit den jüdischen Kindern zu tun hatte oder es hieß lapidar: "Die waren ja versorgt." moni
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