Stadtgang Zwingenberg 1933 - 1945

Auf den Spuren der NS-Zeit in Zwingenberg
Stadtgang zu Stätten der Verfolgung und des Widerstands

Zu ihrer zweiten diesjährigen Veranstaltung der Reihe „Zwingenberger Perspektiven“ laden die evangelischen Kirchengemeinden Zwingenberg und Alsbach, die katholische Pfarrgemeinde Zwingenberg und der Verein „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge e.V.“ am Samstag, 3. Juli ein: Dr. Fritz Kilthau, der Autor des Buches „Mitten unter uns – Zwingenberg von 1933 bis 1945“, wird wieder interessierte Bürger zu mehreren Orten in Zwingenberg führen, um dort von Verfolgung und Widerstand Zwingenberger Bürger während des NS-Regimes zu berichten.

An der ehemaligen Synagoge in der Wiesenstraße 5 beginnend führt Dr. Fritz Kilthau zum Haus der jüdischen Familie Clothilde und Heinrich Wachenheimer in der Pfarrhausgasse, dann vorbei am Haus von Zodik Wachenheimer, dem Bruder von Heinrich, zum Denkmal für den Verleger Max Teichmann am oberen Ende der Scheuergasse. Vor dem Haus Untergasse 7 wird die Geschichte von Ludwig Mütz erzählt, dem damaligen KPD-Vorsitzenden und ersten Nachkriegsbürgermeister von Zwingenberg. Am alten Rathaus am Marktplatz, dem Sitz der damaligen NSDAP-Zentrale, wird von der Absetzung des demokratisch gewählten Bürgermeisters Adam Gerhard im April 1933 berichtet. Bei dem Gedenkgang werden großformatige Fotos der Betroffenen mitgeführt – ein Bild zeigt diskutierende Menschen vor dem während der sog. Reichskristallnacht verwüsteten Haus des jüdischen Lederhändlers Wolf am Marktplatz. Auch die Wohnungen der jüdischen Familien Schack und Wolf in der Obergasse wurden während des Pogroms verwüstet. Friseur Hans Gärtner lebte und arbeitete im Schackschen Haus – als Zeuge Jehova verhaftet, verhungerte er 1940 im KZ Dachau. Neben Ludwig Mütz und Paul Drach wurde auch der Kommunist Philipp Steitz ins KZ Osthofen bei Worms gebracht – seine Lebensgeschichte wird vor seinem Wohnhaus gegenüber der Gaststätte „Zum Ochsen“ erzählt. Nach einem Bericht über die Emigration der jüdischen Familie Berthold Mainzer, die an der Ecke Obergasse-Untergasse ein Bekleidungsgeschäft besaß, wird des verfolgten Sozialdemokraten Heinrich Schellhaas in der unteren Wetzbach gedacht.
Beendet wird der Gedenkgang im Hof des heutigen Rathauses vor der Gedenktafel für die Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Hier wird auch von den Verfolgungen und Auseinandersetzungen der örtlichen Vertreter der beiden Kirchen mit den Nationalsozialisten erzählt – der katholischen Pfarrer Franz Brückner und Georg Dengler sowie des evangelischen Pfarrers Adam Höfle.

Zum Stadtgang versammeln sich die Teilnehmer am Parkplatz der Melibokushalle um 14 Uhr. Während der Veranstaltung wird eine Broschüre angeboten (deutsch und englisch), die alle Stationen des Gedenkgangs im Detail beschreibt (16 Seiten, 19 Abbildungen). Weitere Einzelheiten zum Stadtgang finden sich auch auf der Webseite www.arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de/stadtgang.

Informationen:
„Mitten unter uns – Zwingenberg 1933-1945“ - Stadtgang auf den Spuren von Verfolgung und Widerstand mit Dr. Fritz Kilthau
Samstag, 3. Juli 2004, 14 Uhr
Treffpunkt: Parkplatz der Melibokushalle
Dauer: 1 ½ Stunden

Artikel des Bergsträßer Anzeiger vom 8. Juli 2004

Der grausamen Tat ein Gesicht verleihen
Beim Rundgang des AK Synagoge der NS-Zeit auf der Spur


Zwingenberg. "Mitten unter uns": Fritz Kilthau vom "Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge" recherchierte das Leben jüdischer Bürger in Zwingenberg und setzte den Verfolgten und Ermordeten des Nazi-Regimes mit der Herausgabe eines Buches ein Denkmal. Kilthau organisiert darüber hinaus in Zusammenarbeit mit der evangelischen und katholischen Kirchengemeinde - im Rahmen der "Zwingenberger Perspektiven" - Rundgänge durch die Stadt und rekonstruiert dabei die Lebenswege der einstigen Mitbürger. Etwa 15 Teilnehmer folgten ihm am Samstag auf den Spuren der Juden in Zwingenberg.
Erste Station war die 1903 erbaute Synagoge. Sie wurde in der Pogromnacht 1938 nur deshalb nicht von der SA zerstört, weil dort der tote Sohn der christlichen "Schawwesgoi" aufgebahrt war. Die "Schawwesgoi" führten für die Juden am Sabbat Arbeiten durch, die für diese verboten waren. Die SA-Schergen warfen die Scheiben des Gotteshauses ein, entfernten Schmuckreliefs und schlugen den Davidstern aus der Einfriedung
1933 lebten etwa 40 Juden in Zwingenberg. Gleich nach der Machtübernahme waren den Übergriffen und Schikanen der Nationalsozialisten ausgesetzt. Grundlos wurden sie der Brandstiftung beschuldigt und inhaftiert. 1935 beschloss der Gemeinderat die "Ausschaltung des Judentums". Im Klartext hieß das: Kein Zuzug von Juden nach Zwingenberg, Verbot von Haus- und Grundbesitz und Verbot, die Gemeindewaage und den Zuchtviehstall zu benutzen. Damit machte man den meisten, ohnehin unter ärmlichen Bedingungen lebenden Juden das Leben zusätzlich schwer.
In der Pfarrhausgasse 1 lebte die Familie Heinrich Wachenheimer. Sie emigrierte 1938, zog zunächst in die Pyrenäen, später in die USA. Durch Zufall überlebte sie das KZ Gurs in Frankreich. Anders Zodik Wachenheimer, der im "Pass 21" wohnte, 1937 zu seinem Sohn nach Worms zog und später, nach der Reichspogromnacht, nach Mannheim. Im Oktober 1940 wurde er mit 7000 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in das KZ Gurs verschleppt und starb dort an Typhus.
Nächste Station des Rundgangs durch Zwingenberg war das Denkmal von Max Teichmann in der oberen Scheuergasse. Zu Teichmann, einstmals Verleger des "Bergsträßer Bote", meinte Kilthau: "Er versuchte, ein menschliches Miteinander in seiner Berichterstattung zu bewahren und nationalsozialistische Anfeindungen so weit wie möglich zu vermeiden."
In der Untergasse 7 lebte der Zwingenberger KPD-Vorsitzende und erste Nachkriegsbürgermeister Ludwig Mütz. Mehrfach wurde er inhaftiert. In Konzentrationslagern und Zuchthäusern musste er schwere Misshandlungen über sich ergehen lassen, obwohl man ihm nie etwas nachweisen konnte. Insgesamt war er 45 Monate interniert.
Das alte Rathaus war einst Sitz der NSDAP-Ortsgruppe. Kilthau berichtete über die rasante Entwicklung der Partei in Zwingenberg. Bei der Reichstagswahl 1928 erhielt sie keine einzige Wählerstimme, 1930 waren es bereits 30 Prozent, 1932 dann 53 Prozent und 1933 sogar 58 Prozent. Bürgermeister Adam Gerhard wurde 1933 im Zuge der "Gleichschaltung" sofort abgesetzt und durch Adam Kissel ersetzt.
Auch die Vereine wurden gleichgeschaltet, die Vorstandsposten durch NSDAP-Mitglieder besetzt. Das betraf Gesangverein "Sängerkranz", Ortsgewerbeverein, Turnverein 1884, Landbund und Tierschutzverein ebenso wie Geflügelzuchtverein, Freiwillige Feuerwehr und den Soldaten- und Kriegsverein. Andere Vereine wurden aufgelöst, ihr Vermögen beschlagnahmt.
Am Marktplatz 12 wohnte die Familie Wolf, die sehr beliebt war. 1938 musste sie ihr Geschäft aufgeben und zog nach Darmstadt. Die Nazis stürmten das Gebäude und demolierten unter den Augen der Öffentlichkeit alles, was nicht niet- und nagelfest war. Amanda Wolf starb im KZ Piaski, Sally Wolf in Buchenwald. Tochter Ilse Wolf konnte 1938 in die USA fliehen, Sohn Fritz entkam nach Israel, während Sohn Arnold bei seiner Flucht von Holland in die Schweiz gefangen genommen und nach Auschwitz deportiert wurde, wo man ihn ermordete.
Das Haus der Familie Schack in der Obergasse wurde in der Pogromnacht schwer verwüstet. Moritz Schack wurde bald darauf nach Buchenwald verschleppt, aber wieder entlassen. Das Ehepaar verkaufte das Haus und zog nach Frankfurt. 1940 starb Martha Schack durch Selbstmord. Moritz Schack wurde nach Theresienstadt verschleppt, von dort kam er nach Auschwitz, wo er ermordet wurde. Ihre Kinder überlebten.
Im selben Haus wohnte der Friseur Hans Gärtner, ein Zeuge Jehovas. Auch er durchlebte eine Tortur. Er kam in Gefängnisse und Konzentrationslager. Seine letzte Station war Dachau, wo er 1940 verhungerte. Clara und Jakob Wolf lebten in der Obergasse 5. In der Pogromnacht wurde ihr Haus verwüstet, wenig später brachte man sie ins KZ Buchenwald. Nach ihrer Entlassung entschlossen sie sich zur Auswanderung nach Paraguay. Allerdings verlieren sich ihre Spuren in Frankfurt, so dass man eher davon ausgeht, dass beide in Auschwitz umkamen.
Philipp Steitz (Obergasse 24) war Kommunist, er wurde ins KZ Osthofen verschleppt. Die Familie Mainzer, wohlhabende Kaufleute, besaßen an der Ecke Ober-/Untergasse einen Laden. Das Gemischtwarengeschäft wurde 1935 vom Kaufhaus Blüm und Krämer übernommen. Die Familie Mainzer emigrierte in die USA. Johann Heinrich Schellhaas (Wetzbach 5) war Mitglied der SPD. Wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" saß er Haftstrafen ab.
Im Rathaushof steht eine Gedenktafel zu Ehren der Opfer des Nationalsozialismus. Allerdings ohne die Namen der Opfer, wie Kilthau bedauerte. Der "Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge" hat zwar am Rathaus einen Schaukasten mit den Namen der Opfer veröffentlicht, setzt sich jedoch darüber hinaus nachdrücklich für eine Veröffentlichung in einer würdigen Form ein. Ideen für eine Realisierung gibt es zur Genüge. moni

© Bergsträßer Anzeiger - 08.07.2004

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