Bildvortrag in Lautertal

Artikel im Bergsträßer Anzeiger vom 25. Oktober 2003

Grauenvolle Facetten der Verfolgung

Dr. Fritz Kilthau berichtet über alltäglichen Terror der Nazis

Reichenbach. Die älteren Besucher waren noch Zeitzeugen. Den (leider wenigen) Jüngeren im Publikum mag das, was Dr. Fritz Kilthau im Sitzungssaal des Reichenbacher Rathauses referierte, wie Episoden aus einer anderen Zeit oder gar aus einer anderen Welt vorgekommen sein.
Dabei sind nicht einmal zwei Drittel eines Jahrhunderts vergangen, seit der Terror während des nationalsozialistischen Regimes der Geschichte angehört. Auf höchst unterschiedliche Weise zeigte er während des Dritten Reiches seine stets menschenverachtende Fratze.
Dr. Kilthau will diesen Teil der Geschichte lebendig halten - auch oder gerade deshalb, weil er im Rückblick unangenehm ausfällt und weil er nachhaltig mahnen soll. Der promovierte Chemieingenieur wohnt heute in Zwingenberg, stammt aber aus Wald-Michelbach, wo er im Januar 1945 zur Welt kam.
"Eines meiner ersten Kindheitserlebnisse war, wie die Amerikaner schon von einer nahe gelegenen Anhöhe schossen, als meine Mutter mit mir noch den Bunker aufsuchen wollte", erinnert sich Dr. Kilthau. Dieses und andere, prägende Erlebnisse aus den Nachkriegsjahren sowie die Auseinandersetzung damit - auch während der eigenen Schulzeit - haben sein Interesse geweckt, sich als Lokalhistoriker diesem dunklen Kapitel deutscher Geschichte zu widmen.

In Reichenbach sprach Dr. Kilthau, der auch Vorsitzender des Arbeitskreises "Zwingenberger Synagoge" ist, auf Einladung des DGB-Ortskartells Lautertal. Über eineinviertel Stunden nahm der Referent die Zuhörer mit auf die Zeitreise, die sich bildlich und thematisch vor allem an seiner im Jahr 2000 erschienenen Publikation "Mitten unter uns", einem Stadtgang auf den Spuren der Verfolgung in Zwingenberg zwischen 1933 und 1945, orientierte. Aber trotz der Fokussierung auf die Geschehnisse in der Bergstraßenstadt: Auch Ausschnitte dessen, was im Lautertal geschah, waren eingebunden.
Zwingenberg war überall und überall war Zwingenberg. Die Ausführungen fesselten und schockierten gleichermaßen. Fesselnd waren sie durch Dr. Kilthaus geradezu unerschöpflichen Detailwissen, schockierend aufgrund der plastischen Darstellung der unvorstellbaren Auswucherungen politischer Ideologie. Aber auch, weil nahezu jeder Zuhörer nicht zuletzt bei sich selbst Wissenslücken über das, was seinerzeit in nächster Nähe vor sich ging, entdeckt haben dürfte.

Viele Archive durchforstet

"Die Publikation ,Mitten unter uns' entstand aus einer Beauftragung durch den Magistrat der Stadt Zwingenberg im Jahr 1997. "Aus den ursprünglich vorgesehenen 16 Seiten wurden letztendlich 256", erzählte Dr. Kilthau, der bei der Materialsuche keine Mühen scheute. Vorhandene Literatur, das Hessische Staatsarchiv in Darmstadt und das Hessische Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden mögen wesentliche Pfeiler seiner Recherche gewesen sein. Doch hinzu kam die Durchforstung zahlreicher weiterer Archive, Periodika, Interviews und mündliche wie schriftliche Auskünfte gar aus Übersee.
Der Lokalhistoriker verdeutlichte, wie sich der prozentuale Stimmenanteil der NSDAP auch in Zwingenberg von den Reichstagswahlen 1928 mit null Prozent alleine schon bis zum Jahr 1930 auf einen Anteil von fast 38 Prozent erhöhte. Im Reichsdurchschnitt lagen die Nationalsozialisten zeitgleich "nur" bei 18 Prozent. In Reichenbach erreichte die NSDAP 1933 mit fast 54 Prozent den höchsten Wert (der gleichwohl noch unterhalb des Stimmanteils in manchen Nachbargemeinden lag), in Zwingenberg waren es im selben Jahr 58 Prozent.
Während Reichenbach zu den Gemeinden zählte, die Adolf Hitler die Ehrenbürgerschaft andienten, galt dies für Zwingenberg, wo das alte Rathaus als Sitz der NSDAP diente, nicht. Dr. Kilthau erläuterte, wie die Gleichschaltung auch der bürgerlichen Vereine vonstatten ging, und ergänzte seine Ausführungen immer wieder mit Bildmaterial, das auch direkte Vergleiche zwischen einst und jetzt ermöglichte. Von den zahlreichen "Schlaglichtern" betraf eines einen Juden, den die Zwingenberger SA zwang, in einem Brief an Verwandte in den USA die "paradiesischen Zustände" in Deutschland zu beschreiben.
Die Veranschaulichung der grauenvollen Facetten der Verfolgung jüdischer Familien auch aus Zwingenberg nahm breiten Raum ein. Eines der Beispiele drehte sich um die Familie Katz, die 1935 in einem Dreirad-Lieferwagen entkam, als selbst am Tage ihrer Emigration nach Tel Aviv in der Bahnhofstraße noch einmal die SA auf sie wartete.

Reichenbach betreffende Dokumente stammen vor allem aus dem Staatsarchiv in Darmstadt. Als 1933 in Reichenbach, Elmshausen und Lautern Flugblätter und Bücher mit kommunistischem Gedankengut gefunden wurden, wurden KPD-Mitglieder sogleich festgenommen und ins Konzentrationslager Osthofen überwiesen. Dort befand sich zwar kein Vernichtungs-Konzentrationslager, doch in der alten Halle einer Möbelfabrik schliefen die Häftlinge auf Strohballen und auch im Winter ohne Heizung.

Kommunisten verhaftet

Verhaftungen gab es auch im Lautertal wegen Beihilfe zur im Untergrund arbeitenden "Roten Hilfe". Die Entfernung von Farnkraut am Denkmal der "nationalen Erhebung" am Felsberg bei Reichenbach reichte trotz mangelnder Beweise aus, um fünf Funktionäre von SPD und KPD festzunehmen. Wer den "Hitlergruß" mit "Grüß Gott" beantwortete, dem drohte ebenfalls der Gang in das KZ.
Von den Juden, die in Zwingenberg lebten, kehrte nach Kriegsende auch aus den Reihen der Überlebenden niemand zurück. In Reichenbach gab es mit Max Liebster - allerdings nur für wenige Monate - eine Ausnahme. Er ist inzwischen weit über 80 Jahre alt, lebt im französischen Aix-le-Bains. Liebster kommt am kommenden Donnerstag (30. Oktober) in das Lautertaler Rathaus, um aus seinem Buch "Hoffnungsstrahl im Nazisturm - eine Geschichte über das Überleben während des Nazi-Terrors" zu lesen. ser

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