BA-Bericht 5. Juli 2012

Aktion: Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt erste „Stolpersteine“ zur Erinnerung an die NS-Opfer

Zwingenberg pflastert seine Erinnerungen

Von unserem Mitarbeiter Thomas Tritsch

Zwingenberg. Am Dienstag wurden in Zwingenberg die ersten "Stolpersteine" verlegt. So nennt der Künstler und Bildhauer Gunter Demnig seine kubischen Mahnmale mit gravierter Messingplatte, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Die Steine werden direkt vor den Gebäuden in den Boden eingelassen, in denen die Menschen zuletzt gewohnt haben, bevor sie von den Nazis verschleppt, vertrieben oder ermordet wurden.

Nun reiht sich auch Zwingenberg in die lange Reihe der europäischen Städte ein, die am "weltweit größten dezentralen Kunst-Mahnmal" (Demnig) beteiligt sind. Freilich nicht aus künstlerischen Motiven: Die Stadt und der Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge haben die Stolpersteine auf den Weg gebracht, um namentlich an jene ehemaligen Einwohner zu erinnern, die hier bis zur Nazi-Diktatur ganz normal gelebt und gearbeitet haben.

Insgesamt wurden die biografischen Daten von elf Personen zusammengetragen. Die Gedenksteine sind an fünf Plätzen im Ortsgebiet in das Gehwegpflaster eingemauert. Das Interesse der Bevölkerung an einer Patenschaft war groß: 18 Zwingenberger haben sich an der Finanzierung beteiligt. Gesamtpreis pro Stein: 120 Euro.

"Der Hintergrund zu diesem Projekt ist kein Grund zur Freude" erklärt Demnig auf dem Marktplatz, wo über 50 Menschen die Aktion begleitet haben. Auch nach fast 15 Jahren sei die Installation der Steine nicht zur Routine geworden. Die Messingplatten sind in kleine Steinquader eingelassen und tragen meist die Inschrift "hier wohnte" oder auch "hier arbeitete" oder "hier lebte". Jeden einzelnen Buchstaben prägt Demnig eigenhändig in das Material. Ein Massengeschäft mit der Erinnerungskultur möchte er sich nicht nachsagen lassen. "Jeder Stein spiegelt ein anderes Schicksal." Die Quader messen 96 Millimeter im Quadrat. 1993 hatte er den Einfall. "Eine Idee für die Schublade." Erst später wurde der gebürtige Berliner in seinem Kölner Atelier vom örtlichen Pfarrer Kurt Pick angefeuert, das Projekt zu realisieren. 1995 wurden die ersten Steine gesetzt, wenig später in Berlin. Damals noch illegal.

In der Obergasse kommentiert Demnig eine oft gestellte Frage: "Die Steine dürfen betreten werden. So bleibt die Oberfläche blank. Und damit das Andenken." Die Gefahr eines würdelosen "Herumtrampelns" kann er nicht erkennen. Durch die Namensnennung und die biografischen Details erhalte der Mensch ein Stück seiner Identität zurück. Man muss sich bücken, um den Stein lesen zu können. Für den Spurenleger eine Verbeugung vor den Opfern.

Bei seinen Besuchen vor Ort trifft er Angehörige aus der ganzen Welt. Familien treffen sich wieder. Leute, die sich bis dahin nie kennen gelernt hatten. Auch daraus zieht Demnig die Bestätigung für sein Schaffen.

In der Obergasse Nummer 3, vor dem ehemaligen Wohnhaus von Martha und Moritz Schack, liest Hanns Werner (AK Synagoge) aus einem Brief von Dr. Joan Gluckauf-Haar - einer Enkelin aus Riverdale, New York: "Die Steine sollen eine Mahnung sein." Die Schacks waren die letzten Juden in Zwingenberg. Nach den Pogromen von 1938 zogen sie nach Frankfurt. Sie hat sich - wahrscheinlich - 1941 selbst umgebracht, er wurde 1943 nach Auschwitz deportiert.

Weitere Stolpersteine wurden am Marktplatz 12 verlegt, wo Amanda und Saly Wolf einst ein Leder- und Schuhgeschäft führten. Ebenfalls in der Obergasse 3 hatte Hans Gärtner seinen kleinen Friseurladen. Er ist 1940 im KZ Dachau verhungert. Sein Sohn Johannes Gärtner war damals vier Jahre alt. Er begleitete am Dienstag den Stadtgang auf den Spuren der Opfer. Auch das Geschäft von Jakob und Clara Wolf (Obergasse 5) wurde während der Pogromnacht verwüstet. Sie wurden deportiert und ermordet.

Clothilde und Heinrich Wachenheimer (Pfarrhausgasse 1) verkauften ihr Haus und flohen Richtung Frankreich.

In der Alsbacher Straße 24/26 lebten die Geschäftsleute Clara und Sally David. Er erhängte sich 1940, ihre Spuren verlieren sich in Polen. In Darmstadt erinnert bereits ein Stolperstein an Sally David, der mit seiner Familie 1937 aus Zwingenberg weggezogen sind, nachdem ihr Laden zwangsweise aufgelöst worden war. Dr. Fritz Kilthau hatte davon in der Zeitung gelesen und sofort einen Bezug hergestellt.

"Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen", zitierte Gunter Demnig die Aussage eines Schülers, die ihn "sehr beeindruckt" habe. Über sechs Millionen ermordete Menschen seien für ihn nach wie vor eine abstrakte Größe. Die Stolperstein-Aktion trage dazu bei, dass Schicksale greifbar werden: "Mit den Steinen kamen die Namen der Opfer zurück." Gunter Demnig empfindet die Quader nicht als Grabsteine, sondern als "Schlusssteine". Er habe sich längst damit abgefunden, dass sie nicht jedem gefallen. Die überwiegend positive Resonanz gebe ihm aber Recht. Bisherige Bilanz: 15 Jahre Arbeit, 36000 Steine und drei Morddrohungen. "Es hat sich gelohnt."

Konkret, nicht anonym

Dr. Fritz Kilthau, der Vorsitzende des Arbeitskreises Zwingenberger Synagoge betont die besondere Qualität der Gedenksteine, die jenseits anonymisierter Mahnmale konkret an Menschen und Schicksale erinnern. Damit sei ein unmittelbarer Bezug zum jeweiligen Gebäude und zum städtischen Leben gegeben. Bürgermeister Dr. Holger Habich dankte dem Arbeitskreis um Kilthau für die engagierte Vorarbeit zu dem Projekt. Stadtverordnetenvorsteher Ulrich Kühnhold würdigte das Bestreben, das Andenken an die NS-Opfer auch in Zwingenberg sichtbar werden zu lassen. Kühnhold gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass die Stolpersteine auch eine pädagogische und mahnende Qualität in sich tragen. tr


© Bergsträßer Anzeiger, Donnerstag, 05.07.2012
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